Entdeckt (41): Tatzeit – Stimmungskiller

Tote, Vermisste, Kriminelle auf der Flucht: Gute Laune macht das Heft „Tatzeit“ garantiert nicht. Seine Erstausgabe präsentiert viele Abgründe – menschliche, optische und sprachliche.

covertatzeit

Zeitschriften zu Fernsehsendungen? Eine Leidensgeschichte. Sie erzählt von schrottigen Heften zu Deutschland sucht den Superstar und The Voice of Germany; von selten aktuellen, aber immer „offiziellen“ Magazinen, die oft nur rudimentär mit der Bildschirmvorlage zu tun haben. Und natürlich ist es eine Geschichte über das hemmungslose Auspressen von Marken, wie bei Germany’s Next Topmodel, wo ich mich nicht entscheiden könnte, ob das Heft peinlicher ist oder die Show. Nun ist Tatzeit an den Kiosk gekommen, ein neuer Versuch, eine beliebte Sendung im Magazinformat nachzuahmen.

Obwohl das Heft keinen direkten Bezug zum ZDF-Klassiker hat, ist das Vorbild offensichtlich: „Aktenzeichen XY … ungelöst“. Auf 88 Seiten geht es in Tatzeit um ungeklärte Kriminalfälle, laufende Fahndungen und Menschen, die vermisst werden. „Ein Grund für das Entstehen von ‚Tatzeit‘ sind die Vorkommnisse rund um die Terrorgruppe NSU“, heißt es im Editorial. „[…] Es wird Verbrechern sehr leicht gemacht, wenn sie in einem Bundesland eine Straftat begehen und sie, sobald sie die Landesgrenze überschreiten, einer Fahndung nicht mehr so intensiv ausgesetzt sind […].“ Unter anderem gegen diesen Missstand will Tatzeit nun kämpfen, als bundesweit erscheinendes Magazin, inklusive „Fahndungen, Fälle, Hintergründe“, wie die Titelseite nahelegt.

Die Titelgeschichten stehen online

Praktisch liefert das Heft aber weniger Inhalt, als ich erwartet hatte: Vom Editorial abgesehen besteht Tatzeit fast nur aus Texten von Behörden, vom Bundeskriminalamt etwa, von Landeskriminalämtern und der Bundespolizei. Wörtlich recycelt das Heft, was auf deren Websites veröffentlicht wurde, sogar die Titelgeschichten entpuppen sich als übernommen. Bei der Polizei Baden-Württemberg beziehungsweise beim BKA kann man beide Texte kostenlos lesen, ähnliches gilt für die Artikel über Vermisste. Teilweise sind die Inhalte sogar mehrere Jahre alt. Ich fand diese Übernahmen frech: Erstens erfährt der Leser nirgends explizit, dass selbst die längeren Artikel nicht aus der Redaktion stammen – und zweitens sind die Texte sprachlich eine Qual.

So geht es in Tatzeit beispielsweise um PKW statt um Autos, um „personifizierende Besonderheiten“ und den „Zahnstatus“ einer nicht identifizierten Toten, der zeigt, „dass in diesem Kontext finanzielle Mittel aufgewendet wurden, die über dem allgemein Üblichen liegen.“ Ein unerträglicher Mix aus Substantivierungen, Behördensprech und Passivkonstruktionen, manchmal in Stichworten, oft mit dem Appell „Sachdienliche Hinweise sind zu richten an“. Stellenweise werden Begriffe auch sinnlos erläutert: So erfährt er Leser in Klammern, dass „Zweiräder“ Fahrräder oder Krafträder sein können. Was echtes Fachjargon bedeutet, wie die „heiße Arbeit“ an einem Tresor, bleibt dagegen offen. Mir ist es ein Rätsel, warum die Tatzeit-Redaktion scheinbar aufs Redigieren verzichtet hat.

Wie schön, entlaufene Tiere

Überhaupt fehlt ihrer Erstausgabe der Magazincharakter, eigentlich jede Form von nennenswerter journalistischer Leistung. Der Mittelteil beispielsweise besteht lediglich aus aktuellen Interpol-Fahndungen, auf 25 Seiten stellt Tatzeit steckbriefartig 50 Personen vor, die momentan gesucht werden, teilweise ohne Foto. Dort erfahre dann, dass Russland einen 48-jährigen Deutschrussen wegen Verdachts auf „Betrug in mindestens 4 Fällen“ jagt, dazu dessen Namen und seinen Geburtstag. Super, und jetzt? Soll ich mir den Namen merken, falls er eines Tages meine Wohnung zwischenmieten will? Viel mehr als solche kontextlosen Fakten würden mich die auf dem Cover erwähnten „Hintergründe“ interessieren.  Wie lange sucht man die Personen schon? In welchen Fällen kommt es zu einer Interpol-Fahndung? Wie stehen ihre Erfolgschancen?

Ähnliches frage ich mich bei den Vermissten: Wie viele Menschen werden in Deutschland derzeit vermisst? Wird nach Personen, die vor Jahren oder Jahrzehnten verschwunden sind, noch aktiv gesucht? Und wie geht die Polizei dabei vor? Jedes Interview mit einem Fahnder, mit einem Angehörigen, mit einem Psychologen hätte dem Heft gut getan, natürlich auch ein Gespräch mit jemandem, der selbst mal auf der Flucht war. Irgendein Inhalt über das Recycling fremder Texte hinaus. Aufpassen muss Tatzeit zugleich, dass es trotz harter Themen erträglich bleibt. So gehäuft und für sich stehend machten mir die Berichte über Verbrechen jedenfalls keine Lust, Zeit mit diesem Heft zu verbringen. Ich war wirklich erleichtert, als ich den letzten Heftteil erreichte, die Suchen nach vermissten Tieren. Endlich keine Toten und Kriminellen mehr.

Was Mordopfer dabei hatten

Gut tun würde der Heftmischung ein Text über einen Fahndungserfolg. Sonst macht die Lektüre von Tatzeit schnell depressiv, vielleicht sogar Angst. Mir fiel beim Lesen etwa eine bewegende Spiegel-Geschichte ein, die die Suche nach einem Kindermörder nacherzählt. Solche Artikel fehlen Tatzeit: Reportagen, Features, Porträts. Schon ein Zitat wäre toll, ich erinnere mich lediglich an „Damoj, damoj“, die Worte untergetauchter Juwelenräuber, bei denen ich nicht mal die Sprache erkenne. Die Polizei-Texte bieten andere Details: Man erfährt, was Mordopfer zuletzt bei sich trugen, von der Pom-Bär-Tüte bis zur Geflügelwurst. Konkret bleibt die Beschreibung auch bei den Verbrechen: „Dann schneidet der Mörder den Hodensack des Jungen auf und entnimmt beide Hoden.“ Zwei Seiten vorher zeigt das Heft mehrere Fotos des Jungen.

Optisch bietet Tatzeit, was das boulevardesk-trashige Cover erwarten lässt: Billig wirkende Schriften, schwer lesbaren weißen Text auf dunkelblauem Hintergrund, Fahndungsfotos und Phantombilder. Zwischen den Texten finden sich Fahndungsflyer diverser Behörden, manchmal sind die kompletten Anzeigen verpixelt. Meine Zugnachbarin beobachtete mich beim Lesen jedenfalls skeptisch. Schwer zu sagen, wer nach zwei Stunden Fahrt verstörter war.

Tatzeit – ein Fazit

Am liebsten hätte ich Tatzeit schnell wieder weggelegt – nicht nur wegen des Layouts und des Behördendeutschs. Allgemein fehlen mir schlicht Lust und Motivation, eine solch ernsthafte, aber oberflächliche Zeitschrift zu lesen. Sie unterhält nicht, sie erklärt nichts, zieht mich aber stattdessen runter, mit Kriminalfällen, die weder verhindert noch aufgeklärt werden konnten. Im Prinzip leistet die Erstausgabe wenig, außer zu zeigen, wie grausig das Leben sein kann. Und das möchte ich so geballt gar nicht wissen.

Verdammen will ich das Heftkonzept trotzdem nicht, das Thema Verbrechen bietet sicher Potenzial für künftige Ausgaben. So stieß ich beim Lesen immer wieder auf Kleinigkeiten, die wenigstens kurios klingen: Das BKA etwa sucht nach Männern, die Vitrinen mit einem Kuhfuß eingeschlagen haben. Und die Hildesheimer Polizei fahndet nach der Statue einer Nackten mit Vogel auf dem Kopf. Das ist spannender als jeder Kauftipp aus Germany’s Next Topmodel.


Infos zum Heft

Tatzeit soll zweimonatlich bei ChessMo erscheinen, Neuigkeiten zum Magazin liefert sein Facebook-Auftritt. Kaufen kann man das Heft an Bahnhofskiosken und Flughäfen. Seine Startauflage liegt bei 5.000 Exemplaren.

Beschrieben wurde die Erstausgabe aus dem Januar/Februar 2013. Sie hat 88 Seiten und kostet 4,90 Euro.

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