Skurriles aus Zeitschriften wurde schon Jahrzehnte vor diesem Blog gewürdigt. Das Buch „Rosinen aus der Gartenlaube“ sammelt Kuriosa von 1875 bis 1900 – etwa Meldungen zu einer Hutkamera und zum „Mordpudding“. Ein Einblick.
Blättert man heute durch Magazine der Fünfzigerjahre, wirkt manches seltsam vertraut und anderes nur veraltet. Vor allem Artikel und Anzeigen aus Frauenzeitschriften zeigen: Die Gesellschaft hat sich verändert. Nicht von einem Jahr aufs andere, aber über die Jahrzehnte. So gibt es mittlerweile etwa seltener Outfits-Tipps für die Hausarbeit und die Brigitte titelt nicht mehr „So kriegt man einen Mann“.
Willy Haas war sich noch unsicher gewesen, ob man über die Fünfzigerjahre-Hefte später schmunzeln würde. Der Autor fragte sich 1960, „ob denn die heutigen illustrierten Zeitschriften einmal ebenso komisch wirken werden“ wie einige der Hefte, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts erschienen. Seine Vermutung: „Das glauben wir nicht.“
Haas‘ Text ist das Vorwort zu „Rosinen aus der Gartenlaube“, einem Buch, das ich kürzlich gebraucht gekauft habe. Nicht nur wegen des Untertitels „Kurioses aus alten Zeitschriften“ könnte man es als Vorläufer dieses Blogs sehen. Denn offenbar wurde es ebenfalls von Menschen auf den Markt gebracht, die faszinierte, was per Zeitschrift alles auf Papier festgehalten wird, von der skurrilen Kurzmeldung bis zum lustigen Leserbrief.
Die Gartenlaube, ein „Jahrhundertblatt“
Der Buchtitel spielt auf das Magazin Die Gartenlaube an, das als erstes deutsches Massenblatt gilt. Das Heft erschien von 1853 bis 1944, mehrere Neuauflagen scheiterten. Der Spiegel nannte die Gartenlaube 1963 ein „Jahrhundertblatt“: Sie „überdauerte drei Kriege, ein Königreich, ein Kaiserreich, eine Republik und fast auch eine Diktatur“. Im Heft gab es einerseits etwa Erzählungen einer Autorin mit dem Pseudonym E. Marlitt, anderseits typische Magazin-Geschichten.
„In der Gartenlaube wurden heranreifende Jungfrauen mit praktischen Ratschlägen versorgt“, resümiert der Spiegel, „wurde das Ruhebett Garibaldis als ein ‚Erzeugnis deutscher Industrie‘ gepriesen, wurden das bombastische Marmorschwimmbad des Bayern-Königs Ludwig II. und der Staatswagen des birmanischen Herrschers, wurden Azteken, Buschmänner, Samoaner und Sarazenen, wurde Kaiser Wilhelm I. im Hühnerhof und in den Armen geflügelter Genien auf Himmelfahrt vorgeführt.“
„Rosinen aus der Gartenlaube“ ist eine Sammlung kleiner Kuriosa aus der Gartenlaube, wobei Haas‘ Vorwort nahelegt, dass einige Ausschnitte auch aus den Heften „Über Land und Meer“ und „Vom Fels zum Meer“ stammen. Angaben zum Jahr und Ort der Veröffentlichung gibt es zu den Schnipseln nicht – man erfährt nur, dass alle Ausschnitte aus Ausgaben zwischen 1875 und 1900 stammen.
Das nächste große Ding: Ein tragbares Lesepult
Aufgeteilt sind die Zitate in Kapitel wie „Mode“ und „Feuilleton“, wobei ich das erste, „Erfindungen“, am spannendsten finde. Denn hier tauchen mitunter Produkte auf, nach denen sich Menschen vielleicht noch heute sehnen.
Welcher Newsjunkie etwa würde nicht gern beim Laufen oder in der Bahn lesen, ohne ständig sein Smartphone halten zu müssen? Schon im 19. Jahrhundert interessierte man sich für ein tragbares Lesepult, mit dem man unterwegs Bücher lesen konnte:

aus: „Rosinen aus der Gartenlaube“ von Karin Helm, erschienen 1960 bei Langen-Müller, Seite 14
Und während gerade Gadgets wie Snapchat Spectacles versprechen, dass man seine Erlebnisse jederzeit als Kurzvideo festhalten kann, war einst ein Hut mit Fotoapparat die Innovation der Stunde. Der Träger sei imstande, „sich von jedem schönen Punkte und jedem Gesicht, das ihm gefällt, sofort ein Bild zu verschaffen“, hieß es. Das Snapchat-Gadget wird heute mit dem Spruch beworben: „Die Specs schaffen Erinnerungen, aus deiner Perspektive.“

aus: „Rosinen aus der Gartenlaube“, Seite 21
Während der Foto-Hut als „etwas sonderbare Neuheit“ vorgestellt wurde, bekam ein anderes Accessoire seinerzeit das Prädikat „bizarr“: ein Damenschirm, aus dem man einen Degen ziehen konnte.

aus „Rosinen aus der Gartenlaube“, Seite 39
Mehr Verständnis klang bei einer Meldung zu einer gefährlicheren Waffen-Neuheit mit, dem „Mordpudding“, der angeblich mindestens noch bei Krupp auf Begeisterung stieß:

aus: „Rosinen aus der Gartenlaube“, Seite 17
Illustrationen finden sich in „Rosinen aus der Gartenlaube“ leider nur wenige. Zur Triumph-Wiegenbadschaukel, über die sich augenscheinlich zwei Leserinnen austauschen, findet sich aber das folgende Bild. Bemerkenswert ist auch, dass die Antwort von Frau F. auch als Amazon-Online-Rezension durchgehen könnte.

aus: „Rosinen aus der Gartenlaube“, Seite 15
Während sich die Wiegenschaukel auf Dauer nicht durchsetzen konnte, zeigt diese Meldung, dass Cat-Content schon lange ein wichtiger Teil der Medien ist:

aus: „Rosinen aus der Gartenlaube“, Seite 76
Außer Katzen wurden früher auch Menschen ausgestellt, wie diese Ankündigung dokumentiert. Es heißt – was Menschenwürde und wissenschaftlichen Grundlagen entbehrt –, die „afrikanischen Zwerg- und Erdmenschen“ würden von den „Negerrassen“ abweichen und „gewissermaßen in der Mitte zwischen Mensch und Affen zu stehen scheinen“.

aus: „Rosinen aus der Gartenlaube“, Seite 77
Zu Menschen-Ausstellungen gibt es im Buch noch eine weitere Meldung. Darin heißt es, in Berlin solle ein „anthropologischer Garten“ nach Muster des zoologischen Gartens entstehen: „In demselben will man ständig fremde Völkertrupps, welche unser Klima ertragen können, ansiedeln.“
Diese Rezension wiederum legt nahe, dass Verschwörungsmythen den ein oder anderen Leser schon etwa ein Jahrhundert vor dem World Wide Web nervten:

aus: „Rosinen aus der Gartenlaube“, Seite 49
Und mancher Leser hatte auch seine ganz eigenen Theorien:

aus: „Rosinen aus der Gartenlaube“, Seite 92
In der Regel weniger plump als zu Gartenlaube-Zeiten sind heute Werbeanzeigen. Immerhin wusste man aber schon damals, dass es manchmal hilft, das eigene, angeblich bessere Produkt durch ein „reellstes Mittel“ von Fake-Angeboten abzugrenzen.

aus: „Rosinen aus der Gartenlaube“, Seite 87
Es gab aber augenscheinlich auch Magazin-Leser, die daran zweifelten, dass einem bislang Bartlosen Haare aus dem Kinn sprießen könnten.

aus: „Rosinen aus der Gartenlaube“, Seite 87
Mit Vorher-Nachher-Motiven wurden in Magazinen aber nicht nur Bartwuchsmittel beworben. Hier braucht ein Mann erst einen „Hosen-Strecker“, um einer Frau aufzufallen. Ohne „bauschige Hosen“ ist das mit der Hochzeit dann kein Problem mehr.

aus: „Rosinen aus der Gartenlaube“, Seite 56/57
Während bauschige Hosen angeblich nur mit Ignoranz gestraft wurden, war ein anderes Kleidungsstück ein echter Aufreger: der Pantoffel. In einer Stilkritik, die das Buch zitiert, heißt es: „Der Mann, der kaum zurückgekehrt, den Pantoffel hervorsucht, verliert seine Würde, seine Kraft, seinen Mut und sein Selbst. Wer den Pantoffel an seinem Fuß trägt, wird auch bald sein Haupt der Herrschaft des Pantoffels beugen.“ Ein Mann in Pantoffeln sei „außerhalb seines Toilettenzimmers immer lächerlich“.
Umstritten sind Pantoffeln bis heute. „Ob jemand Hausschuhe trägt oder nicht, ist eine Frage von nicht zu unterschätzender Bedeutung“, heißt es etwa in einer Stil-Kolumne des Zeit-Magazins von 2016, deren Anlass eine neue Straßenvariante des Plüschpantoffels ist. „Früher drückte man durch sportliche Kleidung aus, dass man sich nicht um Etikette schert“, heißt es dort. „Nun zeigt man durch das Tragen von Schuhen, die wie Puschen aussehen, dass es einem egal ist, wie man in der Öffentlichkeit rüberkommt.“ Manches Thema ist also auch über ein Jahrhundert später noch nicht ausdiskutiert.
Anders als Willy Haas 1960 bin ich mir übrigens in einem sicher: Eines Tages wird man garantiert auch wieder über das schmunzeln, was in den Heften unserer Zeit steht.
Und falls Sie meinen Artikel zufällig erst im Jahr 2087 entdeckt haben, lieber Leser – mit Ihrer Datenbrille, die Text und Fotos auf die Netzhaut projiziert oder ganz anders, als ich es mir vorstellen kann – finden Sie hier noch drei Links: So, so und so sahen Zeitschriften 2016 und 2017 aus. Komisch, oder?
Tipps zum Weiterlesen
Zahlreiche Artikel aus der Gartenlaube finden sich gescannt bei Wikimedia Commons und bei Wikisource. Und wer sich allgemein für alte Zeitschriften interessiert, findet im Blog Der Leser einige Artikel dazu.
Infos zum Buch
„Rosinen aus der Gartenlaube“ ist 1960 im Albert Langen Georg Müller Verlag erschienen, der heute zur Verlagsgruppe LangenMüller Herbig nymphenburger terra magica gehört. Die Bilder in diesem Artikel zeige ich in Absprache mit der Verlagsgruppe.
Ausgewählt wurden die Fundstücke im Buch von Karin Helm, die auch Herausgeberin des Buchs ist. Das Vorwort des Buchs hat Willy Haas geschrieben.
Das Buch hat 98 Seiten und ist laut Verlagsauskunft heute wohl nur noch antiquarisch zu beziehen, „falls es nicht noch in Bibliotheken stehen sollte“. Ich habe mein Exemplar gebraucht bei Ebay gekauft, für etwa sieben Euro.